Identität und Berufung II

Berufung ist wie ein Baum. Die Wurzeln stellen die Berufung in die Liebesgemeinschaft Gottes dar, der Stamm ist die Berufung zu einer neuen herrlichen Identität in Christus und die Baumkrone sind die Früchte und Werke unserer Berufung. Wenn Menschen nach ihrer Berufung fragen, fragen sie in der Regel nach der Baumkrone. Was soll das Ergebnis meines Lebens sein? Wie wird das aussehen? Was kann ich tun, damit die Baumkrone schöner, voller und grüner wird? Viele sind in ihrem Herzen auf das Ergebnis fokussiert, wenn sie sich mit der Frage nach ihrer Berufung auseinandersetzen. Das ist aber eine falsche Betonung.

Im Bild des Baumes wird es ganz klar: Die Konzentration auf die Krone des Baumes ist kontraproduktiv. 1. Korinther 1, 9 sagt es ganz klar, dass wir zur Gemeinschaft mit Jesus Christus berufen sind. Ja, das ist doch klar, höre ich dich sagen, was ist da wirklich Neues dran? Ich will es dir sagen: Neu ist, dass ohne deine gelebte Berufung in die Liebesgemeinschaft Jesu weder deine neue Identität als Kind Gottes, geschweige dein vorgesehener einzigartiger Beitrag für das Reich Gottes sich entfalten kann. Wenn du mehr über deine Berufung wissen willst, konzentriere dich weniger auf deine guten oder schlechten Aktivitäten oder Gaben, sondern fokussiere dich in das Hineinwachsen in die Liebesgemeinschaft mit Christus. Wenn du dazu noch einen kleinen Anstoß brauchst, dann lies Off. 2,1-7.
In der Liebesgemeinschaft Jesu werde ich immer mehr erkennen, wer Jesus ist und wer ich bin. Mein neues Sein, meine neue Identität in Christus wird mir mehr und mehr deutlich werden. Dies ist ein ganz entscheidender Prozess, in dem Gott mit seinen Menschen in verschiedenen Lebensphasen immer wieder unterwegs ist. Das Bild unserer Identität leiten wir zum großen Teil davon ab, was ich glaube, was andere über mich sagen bzw. gesagt haben. Und meine Seele wird davon genährt und geformt. So entstehen die positiven oder negativen Bilder von uns und bestimmen unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen. Und das verstärkt wiederum unser Selbstbild, unser Bild von unserer Identität. Vieles davon ist aber ganz einfach falsch oder sind nur ruinenhafte Teilwahrheiten. Gott sieht mich oft völlig anders – und eben ganz vollständig.
Wie kann ich mir mehr von der Sicht Gottes, wie ER mich sieht, mir zu Eigen machen? Gottes Gedanken und Sichtweisen sind in Seinem Wort aufgeschrieben und werden durch das Betrachten des Wortes mit Hilfe des Heiligen Geistes in unseren Herzen “wachgeküsst”. Wenn ich solche Schlüsselaussagen betend betrachte, werden sie in mein Herz gepflanzt. Weil diese Sichtweise, wer ich in Gottes Augen wirklich bin, für das Verständnis meiner Identität in Christus so fundamental wichtig ist, habe ich ein zweites Buch darüber geschrieben: “Ist mein Wort nicht wie Feuer? Wie das Wort Gottes deine Identität in Christus hervorbringt.” Holen wir die Bibel aus dem Regal und erreichen diese Schlüsselaussagen unser Herz, entfalten sie in uns eine ungeahnte Kraft und ein heilsamer Transformationsprozess in eine neue Identität nimmt ihren Anfang.
Betrachten wir einmal beispielhaft nur eine einzige Aussage: “Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?” (Römer 8,32) Ich bin unermesslich reich beschenkt! Das bin ich! Seele, hast du das verstanden? Hast du das kapiert? Das scheint so unglaublich zu sein, dass unser Gefühl sich weigert, dies zu akzeptieren. Wir hören es, aber es greift nicht. Unser Verstand nimmt diese Aussage wahr, aber es ist zu viel für uns. So lesen wir in der Regel einfach weiter oder wenden uns wieder anderen Dingen zu. Aber jetzt bleiben wir doch einfach mal hier stehen. Wir gehen nicht weiter; wir wenden uns erneut dieser unglaublichen Aussage zu: Wenn Gott uns so sehr liebt, dass er sein liebstes – seinen Sohn – für uns hergab, wie könnten dann andere Dinge für uns ausgeschlossen sein?
Wie kommt es aber dann, dass ich mich oft überhaupt nicht reich beschenkt fühle? Meine Gehaltsabrechnung hat sich nicht verdoppelt, es gibt keinen Sechser im Lotto, mein Vermieter droht mit der Kündigung, mein Computer macht Probleme, meine Frau ist unzufrieden, meine Gesundheit lässt zu wünschen übrig, der Erfolg im Beruf bleibt aus, es droht die Arbeitslosigkeit usw.: Reich beschenkt?? Fehlanzeige. Das kann doch nur ein Witz sein! Bei mir jedenfalls nicht! Und bei anderen? Mache ich da irgendetwas falsch, was andere längst begriffen haben? Wo ist der Christ, der sich diese Aussage nicht nur theoretisch anhört, sondern der das in seinem Leben konkret erfährt? Ich will etwas lernen! Aber ständig höre ich die Bittgebete, die darauf hinweisen, dass sie Mangel leiden und sich nach mehr sehnen: Mehr Zeit, mehr Kraft, mehr Geld, mehr Bekehrungen, mehr Gottesdienstbesucher, mehr wirkliche Freunde, mehr Vitalität, mehr Kreativität, mehr Frieden, mehr Liebe, mehr Freude, mehr Weisheit, etc. Irgendetwas stimmt da nicht. Gott sagt doch deutlich in Seinem Wort, dass Er gerne gibt und hier steht doch geschrieben: Alles schenke ich dir – mit Ihm, mit Jesus. Was ist also los?
Als ich darüber nachdachte und betete, fiel mir das Märchen von den Sternentalern ein. Am Schluss der Geschichte fielen die Sterne vom Himmel und füllten den leeren Rockzipfel des armen Mädchens – mit “himmlischen Sternen”, mit himmlischen Gütern. Sie ge-hörten jetzt diesem Mädchen. Was wäre passiert, wenn der Rockzipfel voll gewesen wäre, nicht leer? Es wäre kein Platz mehr für diese Geschenke gewesen, sie wären auf die Erde gefallen. Ist dies nicht auch oft so mit unserer Seele, die voll ist mit anderen Dingen? Beschenkt werden kann ich nur mit leeren Händen. Und so wurde ich ermutigt zu geben, in diesem Fall ganz konkret mit Euro – und ich konnte es mit frohen Herzen tun. Weil ich mich selber wieder mehr als ein Beschenkter verstehen durfte.
Dieses Verstehen meiner Identität als Kind Gottes, als Sohn des Höchsten, ist ein wichtiger Meilenstein für das Einnehmen meiner Berufung. Wenn ich das nur rudimentär begriffen habe oder nur flüchtig mein Bewusstsein streift, werde ich meinen “drive” bzw. meine Lebensenergie mehr dazu benutzen, meine Defizite zu füllen, als Gottes gute Gedanken über meinem Leben wahrzunehmen und ihnen Raum zu geben. Deshalb hat das Erkennen von Berufung mehr mit dem Einnehmen meiner Identität in Christus zu tun als das Erkennen meiner Gaben und Fähigkeiten.
Wenn meine und deine Lebensenergie sich primär auf die Liebesgemeinschaft mit Jesus und Seine wahre Sicht über uns fokussiert, dann wird die brennende Frage nach meiner und deiner Berufung schließlich wie ein reifer Apfel in unseren Schoß fallen. Und das ist es, was ich mir – und vielen von Euch – von Herzen wirklich wünsche.
Wer sich noch eingehender mit diesem Thema auseinandersetzen möchte, dem sei folgendes Buch empfohlen (leider nur noch gebraucht zu erwerben):
Wagner, Karsten: Berufung - zurück zur Herrlichkeit Gottes; TB IGNIS Edition; Kitzingen 2005